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Von einer Brille und durchweg netten Menschen

Einige Tage lang wetterten wir einen fetten Sturm im Emder Delft ab. Hier wird erzählt, was meine Brille während dieser Zeit erlebte und wie das Ganze ein glückliches Ende fand.



27.07.2023 | © pt


Brille



Wir liegen in Emden, unsere Ostseepläne hatten sich zerschlagen
für dieses Jahr. Nach der Zerschlagung, verschiedene Gründe hatte sie, ließen wir's ruhig angehen. Erst ein paar Tage Leer, mit dem Boot waren wir da noch nie. Obwohl, von Weener sind es nur lächerliche fünf Meilen dorthin.

Netter Hafen dort in Leer, mitten in der Stadt, nette Hafenmeister, ein klasse schwimmendes Restaurant und eine tolle Backsteinstadt, das muss man sagen. Also durchaus eine Reise wert der Ort, und sei sie noch so kurz, wie in unserem Fall.

Nach Leer folgt Emden, die Wettervorhersagen sind nicht rosig, für die gesamte Deutsche Bucht ist ein fulminanter Sommersturm vorhergesagt. Die ersten Vorboten spüren wir ab dem Emssperrwerk, ordentlicher Wind gegen den mitlaufenden Strom machen eine ruppig steile See. Gemütlich ist das nicht für zwei alte Leute.

In Emden angekommen, gehen wir zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren durch die im April 2018 wiedereröffnete Nesserlandschleuse. 2006 war sie wegen offensichtlicher Baufälligkeit geschlossen worden, eine der letzten Schleusungen habe ich selbst erlebt.

Während damals etliche Boote in der Kammer warteten, öffnete sich unvermittelt und hoffentlich auch ungeplant eines der Schleusentore, was zu sicher nachvollziehbaren Irritationen bei den meisten der in der Kammer liegenden Bootsbesatzungen führte – hatten sie doch erheblichen Aufwand damit, dafür Sorge zu tragen, dass die Schäden an ihren sich wild bewegenden und an den Festmachern zerrenden Booten in vertretbarem Rahmen gehalten wurden. Ein noch nicht festgemachtes Boot trieb sogar manch anderen touchierend durch die Schleusenkammer.

Übrigens, ein recht ordentliches Bauwerk ist da gelungen mit der neuen Nesserlander. Leider allerdings verkalkulierte man sich mit den Baukosten, wie manche Menschen meinen, durchaus erheblich. Statt der veranschlagten rund 40 Millionen Euro wurden letztendlich 120 für den schicken Bau benötigt. Dafür aber – und ich habe es eben selbst erlebt – bleiben die Tore während der Schleusung fest verschlossen. Ein Erfolg, den man nicht zu gering schätzen sollte.

Nach der Schleuse müssen wir durch die Eisenbahnbrücke, sie öffnet in der Regel kurz nach Abschluss der Schleusung, dann sind wir im Delft und damit dem Zentrum der Stadt ganz nahe. Wir suchen uns einen schönen Liegeplatz in direkter Sichtweite zum Ottohaus. Ein gründliches Studium der Wetterdaten durch Frau Cornelia ergibt, dass die Wettervorhersage korrekt zu sein scheint, es wird morgen noch moderat sein, übermorgen aber ordentlich kacheln in ganz Norddeutschland.

Am nächsten Abend also, nach für mich beschwerlichen Stadtgängen, verstärke ich die Leinen, richte unsere Kohinoor vernünftig aus. Sie soll sich nicht quälen müssen und ganz sicher auch nicht leiden, Sturm in Orkanstärke ist schließlich vorhergesagt für die ganze Region, da will ich nicht nachlässig sein.

Der Wind nimmt schon im Laufe der Nacht heftig zu, am Morgen bläst es ordentlich, trotz recht geschützter Lage zeigt der Windmesser mitunter hohe acht Bft.. Nach ausgiebigem Frühstück im gemütlich schwankenden Keller wage ich einen feuchtwindigen Kontrollgang – will schauen ob alles gut ist draußen und soweit nötig, die Fender richten.

Just als ich den Zweiten neu am Relingsdraht verknote, hebt mir eine gemeine Böe die Brille von der Nase. Sie steigt, ich sehe das tatsächlich deutlich, einen runden Meter über meinen Kopf, dreht ab und landet nach sieben Metern trudelndem Flug ein gutes Stück hinter dem Schiff im Hafenwasser.

Au weia, eine Ersatzbrille ist natürlich nicht an Bord, nur eine uralte Notlesebrille, mit der ich nicht einmal mehr meine Oma auf einem großformatigen Foto erkennen könnte. Mit Sehen also, insbesondere in die Ferne, ist es Essig ab sofort – Kacke verdammte.

Ich steh' draußen in der Plicht, der Wind zerrt an meiner Jacke und denke hin und her. Eine Lösung für mein Problem fällt nicht vom Himmel. Manchmal erwartet man ulkige Dinge, gell? Wider besseres Wissen!

Also zurück in den Keller, Frau Cornelia beichten.

„Und nun?“, fragt sie, kurz darauf, „Taucher, wir brauchen einen Taucher!“

Kein schlechter Vorschlag, immerhin geht es um einen Wertgegenstand deutlich unter der Wasseroberfläche.

Ich bin skeptisch, typisch Bedenkenträger eben. Im Alter wird man so. Nun gut, vielleicht nicht alle.

Ob man einen finden würde, einen Taucher, frage ich – und wenn, ob der dann die Brille auch findet und was es kosten würde mit unsicherem Aussicht auf Erfolg. Ach, ach ach.

Früher war ich ein hin und wieder findiges Kerlchen, da fielen mir unmögliche Lösungen ein, zum Beispiel ein Pulvertrockenofen mit platzsparendem Quertransport (nicht wichtig), oder eine Gartenharke (wichtig) zum Auffinden einer Brille auf dem Ostseegrund – verdammt, ja, so könnte es gehen, schießt mir durch den Kopf, ne Harke.

Bei drei Metern Wassertiefe wenigstens einen Versuch wert. Oder?

Nein, jetzt werden keine Bedenken getragen.

Frau Cornelia unterbricht ihre bislang erfolglose Suche nach einem Schatztaucher, schwenkt um auf Baumärkte, einer ist ganz nah, nur 1,3 Kilometer Fußweg. Ein Telefonat klärt schnell: Gartenharken sind im Vorrat, selbstverständlich. Gut gemacht Frau Cornelia!

Jacken an und los, Regen ist gerade nicht, Wind wohl. Aber egal, wir haben eine unendlich wichtige Aufgabe. Im Baumarktgeschäft angekommen, fragen wir nach der Harkenabteilung.

Dort, gleich um die Ecke bitteschön, werden wir beschieden.

Um die Ecke findet sich, die Abteilung ist recht überschaubar, genau eine Harke. Sie ist von Stahl mit einem Stiel von runden einsachtzig, gern hätte ich Eine aus Kunststoff gehabt. Wegen der empfindlichen Gläser.

„Wie Gläser?“

„Brillengläser, wir brauchen die Harke um eine Brille aus dem Hafenbecken zu holen!“

„Ach so.“ Das „ach so“ kommt, als frage sich der Verkäufer, ob ich noch alle Latten am Gartenzaun habe.

Wir nehmen die Harke aus Eisen. Wenn das Angebot knapp ist, nimmt man was zu kriegen ist und zahlen wirklich scharf kalkulierte 19,99. Auf den Kassenbon verzichte ich.

Unser weiterer Plan: Zurück zum Schiff, so schnell eben möglich. Daraus aber wird nichts. Es schüttet inzwischen in Strömen. Also warten, neben dem kombinierten Ein- und Ausgang. Wird ja gleich wohl besser werden.

Und es wird nicht besser. Eher schlechter.

Nach einigen Minuten dringt eine freundliche Stimme zu uns:

„Sie brauchen da doch nicht zu stehen. Wir haben hier Sitzplätze, bitte dort, oder dort. Und hier steht Kaffee. Bitte bedienen Sie sich. Wie wäre es mit dem Sofa, setzen Sie sich doch bitte?“

Die Rezeptionistin überrascht uns mit der freundlichen Einladung. Watt nett! Wir warten – bequem sitzend und warten und warten. Hin und wieder eilt Frau Cornelia zum Eingang, kommt zurück und meldet jeweils auf's Neue:

„Keine Veränderung der Lage. Der Parkplatz schwimmt.“

Irgendwann hat sie den Kaffee auf:

„Wir nehmen uns ein Taxi, keine Widerrede.“ Sie kennt mich und natürlich meinen verhaltenen Hang zur Sparsamkeit. Sie ginge eben zur Rezeption, nach einer Nummer fragen. Nach wenigen Momenten ist sie zurück. Sie brauche sich nicht zu bemühen, hätte die Dame an der Rezeption gesagt, den Anruf würde sie für uns erledigen, selbstverständlich sei das doch wohl, erzählt Frau Cornelia.

Ich sitze auf der Couch, die Harke vor mir aufgepflanzt wie einen altertümlichen römischen Kampfspieß. Zu gern möchte ich so schnell wie möglich im Trüben Brillen fischen gehen.

Nach kleinen fünfzehn Minuten kommt Auskunft von der Rezeption: Leider, eine Taxe sei in ganz Emden nicht verfügbar, alle Wagen seien ausgebucht, niemand hätte ihr irgendwelche Hoffnung machen können, leider.

„Okay“, sage ich, „dann ist das eben so. Und ganz herzlichen Dank für Ihre Mühe. Wir laufen dann mal los. Werden schon nicht wegfließen unterwegs.“

„Auf gar keinen Fall!“, kommt es zurück, „bei dem Wetter können Sie nicht laufen. Es gießt wie aus Eimern. Und der Regen, der treibt waagerecht durch die Luft.“

„Wird schon gehen – sind ja nicht von Pappe.“

„Nein, und noch einmal nein – ich fahre Sie. Muss nur eben Bescheid sagen damit ich vertreten werde am Empfang, Sekunde.“

Wir sind platt – und unendlich dankbar. Mein Angebot, die Kaffeekasse des Hauses ein klein wenig aufzufüllen, wird mit Entrüstung abgelehnt, dass man sich hülfe, sei doch wohl selbstverständlich!

Wie schön, was für eine unglaublich nette, hilfsbereite Frau! Das ist selten und hebt die Laune deutlich.

Und so erreichen wir unser Bötle trockenen Fußes und bequem, unterhalten uns auf der Fahrt ein wenig, der angebotene Kaffee auf dem Schiff wird von unserer Chauffeuse abgelehnt, die Arbeit riefe, sorry.

Noch einmal Dankeschön liebe Frau Rezeptionistin, wir sind tief beeindruckt.

Nach zwei Stunden Warten im Salon lässt der Regen etwas nach, auch der Wind wird langsam weniger – ich nehme meine Außenarbeiten auf. Zuerst muss ein zweiter Bootshaken her, schließlich muss ich auf drei Meter Wassertiefe den Hafenboden harken. Den Haken leihe ich mir bei einem in der Nähe liegenden Kollegen, er wünscht viel Glück und meint es augenscheinlich ernst.

Die Harke wird mit einigen Zeisingen am ersten Haken vertäut, der erste Haken wieder mit Zeisingen am zweiten. So entsteht eine zwar wackelige, aber recht lange Konstruktion. Fünf Meter wird sie wohl haben. Es kann losgehen, langsam und vorsichtig gleitet meine Bastelarbeit vom Steg aus ins Wasser. Bei Grundberührung fange ich langsam an zu ziehen, die Harke pflügt sachte über den Hafenboden. Zweimal, fünfmal, zehnmal.

Die Ergebnisse sind mager. Ein wenig grauschwarzen Schlick kann ich zutage fördern, einige braune Herbstblätter der umstehenden Bäume, sogar einen kleinen Ast. Meine Brille aber will der Hafen nicht hergeben.

Während ich mich mühe, kommt ein Mädel längs, will nach ihrem Boot sehen, ob es irgendwelche Schäden genommen hat durch den Sturm. Im nächsten Hafenbecken, eben um die Ecke, erzählt sie, hat es eine Genua komplett zerlegt. Mir wünscht sie voller Anteilnahme Glück, sie selbst habe vor einiger Zeit leider keines gehabt.

Ich harke weiter, kreuz und quer, versuche natürlich sehr systematisch meine Bahnen zu ziehen. Nur weitere Blätter erblicken das immer noch feuchtnasse Tageslicht – keine Brille. Meine Hoffnung lässt nach, wirklich groß war sie ohnehin nicht. Ich gebe auf, ein letzter Zug noch. Unter dem Heck des Schiffes beginnend entlang am Steg. Und Sapperlot, ich glaub' es nicht: Da liegt doch tatsächlich meine Brille auf den Zinken der Harke – unfassbar aber wahr. Ein Freudenschrei:

„Conny, ich hab' Sie!“

„Nee iss nicht wahr, toll!“

Just jetzt kommt das Mädel wieder längs und freut sich mit uns. Ob sie einen Garten habe, frage ich. Nein, noch nicht, aber bald hätte sie einen, sie würde umziehen in Kürze. Ob ich ihr eine Harke schenken dürfe, ein erstes Gartengerät sozusagen? Ich hätte vorläufig keine Verwendung mehr für meine Harke.

Sie nimmt das Geschenk gern an, an ihrem Boot hat es keinen Schaden gegeben, schön.

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